„Die Umweltkrise existiert – egal ob wir sie sehen oder nicht, egal ob wir sie als Krise definieren oder nicht“

Interview mit der Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Alexia Katsanidou ¹

LFV-Krisen: Mit welcher Art von Krisen beschäftigen Sie sich?

Katsanidou: Ich beschäftige mich mit den politischen Krisen der letzten Zeit. Insbesondere die große Finanzkrise von 2009 und die darauffolgenden Krisen sind für mich von großem Interesse. Diese Krise hatte ihren Beginn in der Finanzkrise in den USA, woraufhin es zu einer europäischen Finanzkrise kam. In meiner Forschung gehe ich der Frage nach, welche Auswirkungen diese Krisen auf die politischen Systeme in Europa haben und die Beziehung zwischen Bürgern und Wählern auf der einen Seite und Parteien und Regierungen auf der anderen Seite. Betrachtet man diese Beziehung, kann man feststellen, dass zurzeit eine Repräsentationskrise stattfindet. Diese ist für uns von großer Wichtigkeit, denn sie zeigt auf, dass die Bürger sich nicht mehr korrekt repräsentiert fühlen und neue Lösungen suchen; entweder innerhalb des politischen Systems durch die Hinwendung zu populistischen oder extremistischen Parteien, oder außerhalb des Parteiensystems durch Protest oder eine komplette Ignoranz der Politik, die sich in einer Zuwendung zur Arbeit und einem bloßen Kommentieren in den sozialen Netzwerken ausdrückt. Bei dieser „Exit-Option“ versucht der Bürger außerhalb des Systems eine Lösung zu finden und sich Gehör zu verschaffen.

Die Krise liegt dabei nicht in der Zuwendung der Bürger zu populistischen Parteien, sondern in der Beobachtung, dass sich die Bürger nicht mehr repräsentiert fühlen. Die eigens gewählte Lösung für diese Krise besteht für viele Bürger in der Möglichkeit, populistische und extremistische Parteien zu unterstützen. Dabei zeichnet eine immer größer werdende Literatur ein ambivalentes Bild von der Existenz dieser Parteien. Auf der einen Seite bringen sie viele Probleme für die repräsentative Demokratie mit, auf der anderen Seite ermöglichen sie es dem Bürger sich gehört zu fühlen, also repräsentiert zu werden. Das ist ein gutes Gefühl für die Bürger und darin sehen sie eine Lösung für die große Krise.

LFV-Krisen: Kommen wir auf den Begriff der Krise zu sprechen. Wie verwenden Sie den Krisenbegriff in Ihrer Forschung?

Katsanidou: In meiner Forschung betrachte ich Krisen als Momente oder Situationen, in denen die Prozesse nicht mehr weiterlaufen oder weiterlaufen können, wie es bisher geschehen ist. Besonders in der Politik kann ein Krisenmoment charakterisiert werden, wenn die erwarteten Modelle, die benutzt wurden, um zum Beispiel Wahlverhalten zu analysieren, nicht mehr funktionieren und wir neue Instrumente brauchen, da wir sehen, dass die Bürger und Parteien sich anders verhalten als erwartet. Das ist für uns ein Anzeichen dafür, dass ein anderer Mechanismus im Spiel ist.

LFV-Krisen: Bedeutet dies, dass Sie nicht nur politische Krisen untersuchen, sondern auch Krisen politikwissenschaftlicher Instrumente?

Katsanidou: Das habe ich bisher nicht unter diesem Gesichtspunkt betrachtet. Ich glaube jedoch, dass die Politikwissenschaft per se nicht in der Krise ist. Sie muss sich anpassen, um die neuen Situationen in Politik und Gesellschaft, die durch Krisen zustande gekommen sind, analysieren zu können. Eine Krise der Forschung gibt es jedoch meiner Meinung nach nicht. Vielmehr würde ich den beschriebenen Wandel als normalen Prozess in der Wissenschaft betrachten. Es passiert öfters, dass das von uns untersuchte Forschungsobjekt, welches wir beobachten und analysieren wollen, sich nicht mehr so verhält, wie wir es uns vorgestellt haben. Dann liegt es an uns, die Mechanismen anzupassen und neue Theorien zu entwickeln. Das muss nicht als Krise der Wissenschaft gedeutet werden, sondern eher als neues Puzzle oder eine neue Forschungsfrage, die angegangen werden muss.

LFV-Krisen: Welche Konnotation hat der Krisenbegriff für Sie?

Katsanidou: Wenn wir uns die Bedeutung des Wortes anschauen, welches aus dem Griechischen kommt, so ist Krise immer auch ein Moment von Entscheidung und muss daher nicht immer negativ verstanden werden. Die Situation, die zu einer Entscheidung führt, kann negativ konnotiert sein, wie zum Beispiel eine geringe wirtschaftliche Sicherheit in der Bevölkerung oder Frustration. Der Ausgang der Entscheidung muss jedoch nicht negativ sein – es kann positive Wirkungen geben, wie wir insbesondere in unserer Forschung sehen, am Beispiel in der Solidaritätsentwicklung innerhalb eines Landes und zwischen den Völkern und Ländern in Europa. Des Weiteren können wir beobachten, dass Krisen einen Prozess ausgelöst haben; dass Institutionen der Europäischen Union und die Länder nun sehr viel über die Frage nachdenken, wie sie enger miteinander kooperieren können und wie die Integration zwischen den Ländern schneller und effektiver gestaltet werden kann.

LFV-Krisen: Solidarität zwischen den Ländern in Europa und Bewegung in den europäischen Institutionen - Sie untersuchen globale Krisen und deren Auswirkungen. Welche Merkmale zeichnen die Krisen einer globalisierten Welt aus?

Katsanidou: Wir leben in einer Welt, in der alle Länder und einzelnen Komponenten sehr eng miteinander verbunden sind. Eine Krise in einem Teil der Welt zeigt seine Wirkung auch in anderen Teilen der Welt. Diese Abhängigkeit ist meines Erachtens das zentrale Merkmal der Krisen einer globalisierten Welt. Dies lässt sich exemplarisch an der Finanzkrise 2009 aufzeigen. Die Krise, die wir jetzt erleben, begann in den USA mit der Insolvenz von Lehmann Brothers und hatte dann einen Effekt auf Europa und die ganze Welt. Dabei kam es auch zu unerwarteten Auswirkungen, wie zum Beispiel einer Foreign debt crisis in unterschiedlichen Ländern innerhalb Europas. Des Weiteren ist vor allem in den Krisen der letzten Jahre klar geworden, dass Krisen aufeinander aufbauen und es oft die gleichen Akteure sind, die Krisen bewältigen müssen.

LFV-Krisen: Kommen wir auf die Krisen zu sprechen, mit denen Sie sich beschäftigen. In Ihrem Projekt SoliKris gehen Sie der Entsolidarisierung und den Aktivierungsmöglichkeiten von Solidarität auf den Grund. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Frage welches die positiven und negativen Effekte von Solidarität in der Gesellschaft und zwischen europäischen Ländern sind. Können Sie uns einen kleinen Einblick in dieses große Forschungsfeld geben.

Katsanidou: Wir versuchen das Phänomen der Solidarität zu verstehen und beschäftigen uns mit den einzelnen Komponenten von Solidarität innerhalb von Europa, wie zum Beispiel der Solidarität innerhalb eines Volkes zwischen den unterschiedlichen Generationen, als auch mit der Solidarität zwischen unterschiedlichen Völkern, wie zum Beispiel dem deutschen und dem griechischen Volk. Dabei gehen wir der Frage nach, welche Unterstützung das eine Volk dem anderen anbietet. Wie unterstützt Deutschland zum Beispiel Portugal mit den dort existierenden Finanzproblemen? Ein besonderes Augenmerk legen wir auf die Solidarität in einer debtor-creditor Beziehung, wie der zwischen Griechenland und Deutschland und gehen dabei der Frage nach: Wie sieht es um die Solidarität aus, die das Volk in Krise gegenüber dem geldgebenden Volk aufbringt? Wir können beobachten, dass die Solidarität in diesem Bereich zusammenbricht, da die Völker, die Hilfe von anderen europäischen Staaten bekommen haben, das Gefühl haben, dass sie viel Souveränität verloren haben. Aufgrund dessen benehmen sie sich viel extremer als andere Völker. In diesem Punkt bricht die transnationale Solidarität zusammen. Das eine Volk will nicht akzeptieren, dass es bestimmten Regeln folgen soll - um die Wirtschaft des Landes wieder auf die Beine zu stellen - und dies nur, weil diese Regeln von jemand außerhalb des Landes diktiert worden sind. Dieses Problem zeigt einen Mangel an transnationaler Solidarität auf.

LFV-Krisen: Sie haben sich vor allem mit der Finanzkrise beschäftigt und den Folgen für die Solidarität. Trifft diese Erkenntnis, die Sie gerade formuliert haben, auch auf andere Krisen innerhalb Europas zu?

Katsanidou: Bei der Migrationskrise sehen wir die gleiche Problematik. Länder, wie zum Beispiel Ungarn oder Polen, die keine Migranten aufnehmen wollen, zeigen das Problem der transnationalen Solidarität auf. Sie wollen nicht akzeptieren, dass von außerhalb Solidaritätsregeln zwischen den Ländern diktiert werden und Entscheidungen getroffen werden. Da Nationalismus und Souveränität einen hohen Stellenwert für diese Länder besitzen, wollen sie außerhalb getroffene Regeln nicht übernehmen. In diesem Bereich sehen wir eine Parallele zwischen der Wirtschafts- und der Migrationskrise.

LFV-Krisen: Sie sprechen aber auch von Potenzialen für eine mögliche Aktivierung von Solidarität, also auch von einer positiven Seite. Können Sie davon berichten?

Katsanidou: Zurzeit analysieren wir die Aktivierung von Solidarität zwischen den Generationen eines Volkes. Insbesondere die Unterstützung zwischen der älteren Generation, die schon etabliert ist und über ein stabiles Einkommen verfügt, und der jüngeren Generation, die durch die Krise eine unstabile Zukunft vor sich hat und in Not ist durch eine hohe Arbeitslosigkeit. In Gesellschaften, in denen wir eine Solidarität zwischen beiden Generationen beobachten, sehen wir, dass es zu weniger Extremismus kommt.

LFV-Krisen: Welche Methoden wenden Sie bei der Erforschung von Krisen an?

Katsanidou: Bei der Erforschung von Krisen verwenden wir unterschiedliche Methoden. Eine der herausragenden ist für mich die Messung von Effekten bestimmter Ereignisse. Dafür verwenden wir Befragungen, die über einen bestimmten Zeitraum erhoben worden sind, und vergleichen die Einstellungen der Befragten vor und nach dem Ereignis. Beispiele für solche Ereignisse sind die Insolvenz einer Bank oder die Entscheidung für ein bestimmtes Hilfspaket in einem südlichen Land. Wichtig ist, dass es sich um ein Großereignis handelt, von dem die Bevölkerung mitbekommen hat und über das sich jeder eine eigene Meinung bilden konnte. Bei der Messung versuchen wir herauszufinden, inwieweit sich die Einstellungen oder das Vertrauen zu unterschiedlichen Institutionen, um ein Beispiel zu nennen, durch ein Ereignis verändert haben.

LFV-Krisen: Auf welche Herausforderungen stoßen Sie bei der Erforschung von Krisen?

Katsanidou: Die Daten für die Krisen, die in den letzten Jahren zustande gekommen sind, sind für uns noch nicht verfügbar. Es braucht immer 2-3 Jahre, bis gereinigte Daten auftauchen und benutzbar sind. Da diese noch nicht publiziert worden sind, müssen wir uns leider mit älteren Krisen beschäftigen, die vor 5-10 Jahren stattgefunden haben und müssen weiterhin warten, bis wir auf neuere Krisen eingehen können.

LFV-Krisen: Sie haben sich in Ihrer Laufbahn mit zahlreichen Krisen beschäftigt – welche der von Ihnen untersuchten Krisen findet Ihrer Meinung nach zu wenig Beachtung in der Gesellschaft und Politik?

Katsanidou: Die Umweltkrise findet viel zu wenig Beachtung. Sie ist eine der wichtigsten Krisen unserer Zeit, doch da die Auswirkungen dieser Krise sehr langfristig sind und vielleicht erst in Jahrzehnten oder Jahrhunderten eintreten werden, nimmt sich die Politik und große Teile der Gesellschaft kurzfristig nicht die Zeit, um sich damit zu beschäftigen. Ich arbeite zusammen mit dem Potsdam-Instut für Klimafolgenforschung (PIK), welches Teil des Leibniz Krisenverbundes ist, am Projekt DominoES. Dabei beschäftigen wir uns mit der Umweltkrise und sehen, dass es bei manchen internationalen Akteuren schon ein Bewusstsein für diese Krise gibt, die Regierungen sich jedoch eher kurzfristigen Problemen hinwenden. Sie denken nicht langfristig, da die wenigsten aus ihrer Wählerschaft an solch langfristigen Problemen interessiert ist, insbesondere in Zeiten von Finanz- und Migrationskrisen. Da erwarten die Bürger von der Politik, dass sie sich um die Krisen von heute kümmert.

LFV-Krisen: Sie haben Krise als eine Situation definiert, in der die Prozesse nicht mehr weiterlaufen können, wie bisher geschehen. Könnte es also sein, dass es sich nach dieser Definition bei der Umweltproblematik noch nicht um eine Krise handelt? Denn manche Regierungen erwecken zumindest den Anschein, dass man so weitermachen kann wie bisher.

Katsanidou: Diese Frage ist der Gegenstand unserer Untersuchungen. Wir versuchen den tipping-point zu identifizieren, ab wann Regierungen nicht mehr so weiteragieren können, wie bisher und ab welchem Moment Bürger eine Policy-Entwicklung bevorzugen, die pro Umwelt ist.

Welche Elemente beeinflussen diese Entscheidungen? Bisher haben wir festgestellt, dass es keine Ereignisse, wie der geplante Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaabkommen, sind, die die Einstellungen verändern, sondern technologische Innovationen, die es uns erlauben mit immer geringer werdenden Kosten grüne Energie zu verwenden. Wir konnten jedoch auch beobachten, dass das Schmelzen von Gletschern in der Antarktis in das Bewusstsein der Menschen gedrungen ist. Jedoch nur kurzfristig. Menschen sehen die Umweltkrise nur, wenn ein großes Ereignis passiert, welches auch von den Medien gezeigt wird. Das Thema muss ständig präsent in den Medien sein, damit die durchschnittliche Person die Umweltproblematik als Krise wahrnimmt. Dies ist jedoch nicht gegeben. Die Leute hören etwas von der Umweltkrise und ordnen diese Problematik auch als Krise ein, jedoch sind sie nicht bereit ihr tägliches Leben zu ändern. Das ist der große Unterschied zu anderen Krisen, bei denen es diese Bereitschaft gibt. Mag sein, dass Großereignisse einen kurzfristigen Effekt auf das Verhalten von Menschen haben, jedoch vergessen sie die Problematik schnell wieder und machen das, was sie schon immer gemacht haben: Auto fahren oder fliegen. Deshalb ist die Umweltproblematik sehr kompliziert und es ist eine Krise wie keine andere. Aufgrund dessen bekommt sie auch nicht die Sichtbarkeit, die sie haben sollte.

LFV-Krisen: Prof. Dr. Deitelhoff hat im Rahmen der „Crisis-Interview“ Reihe gesagt: „Krise ist immer dann, wenn jemand sagt es ist Krise, und viele ihm glauben das Krise ist“ und damit einen Zusammenhang zwischen Krise und Aufmerksamkeit hergestellt. Ist dieser Zusammenhang für Sie zwingend?

Katsanidou: Krise und Aufmerksamkeit sind nicht immer partout miteinander verbunden. Es gibt viele Länder, die die Umweltproblematik nicht als Krise sehen und nur eine Minderheit von Menschen, die die Umweltproblematik als Krise einordnen. Unabhängig davon: die Umweltkrise existiert – egal ob wir sie sehen oder nicht, egal ob wir sie als Krise definieren oder nicht.

LFV-Krisen: Das Leibniz-Prinzip „theoria cum praxi“ zielt auf exzellente Grundlagenforschung und einen Wissenstransfer. Wie lassen sich Ihre Forschungsergebnisse in die Politik und Praxis übertragen?

Katsanidou: Wir bieten unsere Expertise zu unterschiedlichen Themen an, wie zum Beispiel Einstellungen zu Migration oder Vertrauen in demokratische Institutionen. Des Weiteren versuchen wir durch Pressemitteilungen präsent zu sein. Die Politik hat sicherlich ein großes Interesse daran, Erkenntnisse aus der Forschung zu integrieren. Jedoch müssen die Inhalte von uns auch so verpackt werden, damit sie auch in der Politik verwendet werden können. Politiker brauchen nicht unsere Modelle oder Methoden, sondern handliche Informationen, die sie zu Policy-Briefings mitnehmen können. Ich muss gestehen, dass uns diese Vermittlung manchmal vor Herausforderungen stellt.

LFV-Krisen: Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview wurde geführt von Thomas Siurkus.

¹ Das Interview wurde vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie aufgezeichnet.

Kontakt
Prof. Dr. Alexia Katsanidou
Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften (GESIS)
alexia.katsanidou@gesis.org
Zur Person

Prof. Dr. Alexia Katsanidou leitet die GESIS-Abteilung „Datenarchiv für Sozialwissenschaften (DAS)“ und ist Professorin für Empirische Sozialwissenschaften an der Universität Köln. Mit SoliKris und DominoES leitet Katsanidou zwei große Forschungsprojekte zu den Themen „politische Krisen“ und „öffentliche Meinung zu Umweltthemen“. Im Leibniz-Forschungsverbund „Krisen einer globalisierten Welt“ ist Sie Co-Sprecherin der Arbeitsgruppe Sozio-politische Krisen.