Auftaktveranstaltung der Crisis Talks in Brüssel am 16. Juni 2015

Der Leibniz-Forschungsverbund „Krisen einer globalisierten Welt“ (in Kooperation mit der Landesvertretung Hessens bei der Europäischen Union und dem Brüssel-Büro der Leibniz-Gemeinschaft) startete seine neue Vortragsreihe Crisis Talks. Mehr als 200 Teilnehmer aus Politik und Öffentlichkeit kamen zu der ersten der in Brüssel stattfindenden Veranstaltungen. Die neue Vortragsreihe hat sich dem direkten Austausch von Wissenschaft, europäischer Politik und Zivilgesellschaft verschrieben und wird künftig bis zu dreimal im Jahr Spitzenforschung öffentlich diskutieren. Thema der Auftaktveranstaltung war: „TTIP – Europäische Außenhandelspolitik in der Krise“.

Ein Grußwort Friedrich von Heusingers, dem Leiter der Landesvertretung, in deren Räumlichkeiten die Crisis Talks durchgeführt werden, formulierte den Rahmen einer sich ihren Krisen stellen müssenden europäischen Politik. Klaus Dieter Wolf, Professor an der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung und Sprecher des Leibniz-Forschungsverbundes „Krisen einer globalisierten Welt“, nahm den von Friedrich von Heusinger gesetzten Impuls in seinem Eingangsstatement sofort auf: Er forderte, die gegenwärtigen Auseinandersetzungen, um die Verhandlung eines transatlantischen Freihandelsabkommens nicht nur durch die Brille der Tagespolitik zu erörtern, sondern größere Herausforderungen zu identifizieren. Als Instanzen dieser benannte er die wohlfahrtspolitische, die demokratiepolitische und die geopolitische Dimension, die die Kritik an den TTIP-Verhandlungen formuliert habe und der zu begegnen – sei es durch Entkräftung, sei es durch Adressierung – Aufgabe europäischer Politik wie des öffentlichen Diskurses sei.

Im Hauptvortrag ging Gabriel Felbermayr, Leiter des Zentrums für Außenwirtschaft am ifo - Leibniz Institut für Wirtschaftsforschung in München, auf diese Herausforderungen ein. Er arbeitete dabei die Potentiale eines Abkommens und speziell des Abbaus nicht-tarifärer Handelshindernisse heraus, stellte dem jedoch auch entgegen, dass die Einwände der Kritiker nicht unbegründet, wenn auch oftmals übertrieben seien. Felbermayr stellte hierfür zunächst neue Studien des ifo Institus vor, nach dem, die zu erwartenden wirtschaftlichen Gewinne durch eine Ratifizierung eines umfassenden Freihandelsabkommens sich nicht nur europaweit, sondern auch in der Breite der Bevölkerungen realisieren ließen. Dies kontrastierte er mit der zwar in Europa sehr unterschiedlichen, aber gerade in wichtigen Ländern wie Deutschland oft kritischen Wahrnehmung der möglichen Folgen eines Abkommens. Die offensichtliche Ambivalenz zwischen öffentlicher Wahrnehmung und wirtschaftswissenschaftlicher Prognose wollte er eingeordnet sehen in größere Veränderungen der Außenhandelspolitik insgesamt, so mache etwa der Fokus auf nicht-tarifären Hindernissen Handelspolitik schwieriger berechenbar und abstrakter zu verstehen. Auch die Nähe zur Außenpolitik, die gegenwärtig ungemein konfliktiv sei, verschaffe Außenhandelspolitik eine Vielzahl neuer Ziele und Rationalitäten. Eine Außenhandelspolitik, die in einer solchen Situation starr an althergebrachten Weisen des Regierens und Verhandelns festhalte, laufe daher Gefahr, Anerkennung zu verlieren und in die Krise zu geraten – und dies selbst dann, wenn ihre substantiellen Ergebnisse, gemeinwohlfördernd seien. Auch wenn Felbermayr betonte, dass es keine Patentlösung für die sich krisenhaft zuspitzende Situation gebe, machte er deutlich, dass viel erreicht werden könne, wenn man sich auf jene Bereiche des Abkommens konzentriere, in denen schnelle Fortschritte zu erzielen seien. Denke man mehr in der Logik aufeinander aufbauender Verhandlungsrunden und ordne sich nicht dem Ziel eines  einmaligen und umfassenden Abkommens unter, sei es möglich, über sichtbare Erfolge auch wieder die Krisenwahrnehmung zurückzufahren.

In der anschließenden Diskussion auf dem Podium ging zunächst Godelieve Quisthoudt-Rowohl, MdEP (EVP) auf die Anregungen Felbermayrs ein. Als Mitglied des Ausschusses für Internationalen Handel (INTA) betonte sie, dass die gegenwärtigen Schwierigkeiten um die Verhandlung und Ratifikation von TTIP nicht nur in Brüssel, sondern auch in den Nationalstaaten so nicht erwartet worden wäre. Sie warnte jedoch davor, aus der deutschen Perspektive einen allgemeinen europäischen  Widerstand gegen TTIP zu folgern. Hier mache sich das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit negativ bemerkbar, da die sehr viel größere Unterstützung in anderen Ländern unsichtbar bliebe. Auch zeige sich an der Debatte, wie zentral Kampagnenfähigkeit für die heutige Politik sei. Eine - möglicherweise existierende – schweigende Mehrheit sei aber gerade deshalb nicht von der Pflicht entbunden, sich für das Thema zu organisieren und es zu kommunizieren. Die inhaltliche Kritik eines Demokratie- und Transparenzdefizits wies Quisthoudt-Rowohl zurück, da der noch anstehende umfassende Ratifizierungsprozess, zwar nicht effektiv, wohl aber in jedem Fall als demokratisch zu betrachten sei, und der mittlerweile umfassende, aber kaum genutzte Zugang zu Dokumenten und Standpunkten, in vielerlei Hinsicht vorbildlich sei. Abschließend betonte die Europaparlamentarierin, dass man Freihandel im Kontext einer sich wandelnden Welt betrachten und daher gerade auch den Wert einer  Kooperation von Demokratien sehen solle.

Hendrike Kuehl, die Leiterin des Brüsseler Büro des Transatlantic Business Council, betonte in ihrem Statement, dass nicht der Freihandel als solcher in der Krise sei, sondern wir es mit einer politischen Krise zu tun haben. Sie unterstrich die Unterschiede zwischen der deutschen und der europäischen Debatte sowie die Potentiale des Freihandels, der ja längst vielerorts existiere und durch TTIP nur umfassender und besser werde. Europäische Politik müsse sich aber besser erklären, um sich nicht durch Armchair-Activism aus den Angeln heben zu lassen.

Johannes Kleis, Leiter der Kommunikationsabteilung der europäischen Verbraucherschutzorganisation (BEUC), stellte dem entgegen, dass die auf dem Podium mehrfach geäußerte Ansicht, dass Kritik an TTIP eine auf wenige Länder beschränkte Position sei, sich nicht mit der Erfahrung in der Arbeit seiner Organisation decke. Hier lasse sich ein sehr intensiver und europaweiter Informations- und Diskussionsbedarf konstatieren. Auch sei es nicht einfach nur die Zivilgesellschaft und die Kritiker, die kampagnenfähig und damit implizit manipulativ tätig würden. Die Kritiker des Abkommens seien auch eine sehr heterogene Gruppe und zudem in großen Teilen nicht gegen Freihandel per se. Inhaltlich arbeitete er heraus, dass die TTIP-Verhandlungen tatsächlich sehr anders und weitreichender funktionieren würden als frühere Handelsabkommen und dass Wirkungen sehr viel schwerer einzuschätzen und miteinander aufzurechnen seien. Die Kritik und die damit verbundene Wahrnehmung einer Krise müsse als Ausgangspunkt einer Vielzahl von Verbesserungen gelesen werden, gerade mit Blick auf Transparenz und Demokratie. Die sich an das Podium anschließende Diskussion mit dem Publikum fügte der Debatte weitere Aspekte, wie die Veränderungen in der Verhandlungskultur zwischen Amerika und Europa oder Besonderheiten der Regulierung im Feld des Datenschutzes, hinzu.

Insgesamt eine sehr gelungene und umfassende Diskussion mitten im Herzen der Europäischen Union. Die somit mit großem Zuspruch eingeführte Reihe der Crisis Talks wird voraussichtlich im November und im kommenden Februar fortgesetzt und sich auch dann wieder aktuellen Krisen und Herausforderungen widmen.

Die "Crisis Talks" gehen systematisch und entlang konkreter Herausforderungen der Frage nach, wie Europa mit seinen aktuellen und vergangenen Krisen umgeht, was die Chancen der Krisen sind, und was man aus der Bewältigung vergangener Krisen lernen kann. Die Vortragsreihe "Crisis Talks" wird seit Juni 2015 vom Leibniz-Forschungsverbund "Krisen einer globalisierten Welt" regelmäßig in der Vertretung des Landes Hessen bei der Europäischen Union in Brüssel veranstaltet.